"Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf














Edgar Wibeau ist 17 Jahre alt und bester Lehrling in seinem Betrieb. Doch er schmeißt die Lehre hin und haut einfach aus der Kleinstadt ab. Er kommt in einer abrissreifen Gartenlaube eines Freundes in Berlin unter, wo ihm auf dem Klo ein Reclam-Heft, ohne Titelblatt, in die Hände fällt, das in einem „unmöglichen Ton geschrieben" ist. Er liest es trotzdem, ohne zu wissen, dass das Buch Goethes Die Leiden des jungen Werther ist. 
Edgar verliebt sich in Charlie, eine Kindergärtnerin, die er in der Laubenkolonie regelmäßig trifft. Und ausgerechnet die Sätze aus dem Reclam-Heft können seine Gefühle treffend beschreiben: „... ich hab eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht." Leider ist Charlie bereits verlobt und will Dieter heiraten, sobald er von der Armee zurückgekehrt ist.
Die neuen Leiden des jungen W. wurde 1972 in der DDR uraufgeführt und in West-deutschland verfilmt. Es war Mitte der siebziger Jahre eines der meistgespielten deutschen Theaterstücke und prägte Generationen von Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland.


Inszenierung: Ramin Anaraki
Bühne und Kostüme: Tatjana Kautsch
Dramaturgie: Barbara Bily
mit Sarah Bonitz, Philipp von Mirbach und Ulrich Rechenbach
Fotos: Nik Schölzel und Tatjana Kautsch

Premiere am 22.11.2013

Nachtkritik.de schreibt folgendes: 

Die neuen Leiden des jungen W. – In Augsburg reanimiert Ramin Anaraki den einstigen Theaterhit von Ulrich Plenzdorf mit Leichtigkeit

Immer noch dieselben Gefühle
von Willibald Spatz

Augsburg, 22. November 2012. So etwas gibt es heutzutage fast nicht mehr: Dass sich ein Stück zu einem Mega-Hit entwickelt und unzählige Male inszeniert wird. Vor vierzig Jahren war das mit "Die neuen Leiden des jungen W." der Fall. Die spannende Frage ist: Kann man damit jetzt noch etwas erzählen? Die Antwort klingt einfach: Es geht – wenn man den richtigen Hauptdarsteller hat. Ulrich Rechenbach räumt gleich zu Beginn auf, er macht die Sicht frei. Die Bühne, die Tatjana Kautsch gebaut hat, dominiert ein Holzgerüst, das mit Folien behängt ist. Die werden weggerissen und säuberlich zur Seit gelegt. Dazu aus dem Off Stimmen, die sich über die Hauptperson – Edgar Wibeau – unterhalten, posthum, er ist schon gestorben. Was ihn nicht davon abhält zu unterbrechen, Sachverhalte richtig zu stellen. Ulrich Rechenbach kann der Technik Anweisungen geben. Aus ihm sprudelt es heraus, er hat der Welt eine Menge mitzuteilen und das auf eine sympathische, offene Art, mit der er schon nach zehn Sekunden nicht mehr verlieren kann und jeder im direkt angesprochenen Publikum ihm alles abnehmen würde.
Popkulturelle Querverweise
Ulrich Plenzdorf ist es seinerzeit gelungen, eine einigermaßen zeitlose Jugendlichenfigur zu entwerfen, obwohl es ganz eindeutig die Umstände in der damaligen DDR sind, die die Geschichte überhaupt erst ermöglichen. Edgar Wibeau ist ein angenehmer Schwätzer. Er grübelt eine Menge nach, ohne viel zu wissen, und er teilt sich gern mit. Vieler seiner Erkenntnisse kommen ihm erst beim Aussprechen seiner Gedanken, und auch hier gelingt es Ulrich Rechenbach das so glaubwürdig zu spielen als fiele es ihm tatsächlich im Moment ein.
Regisseur Ramin Anaraki geht es eindeutig nicht um historische Authentizität und doch verzichtet er nicht völlig auf eine Verortung durch popkulturelle Querverweise. Der Song, der zur Überleitung zwischen den Szenen dient, ist "Sympathy for the Devil" von den Rolling Stones – Edgar Wibeau zieht sich dazu seine Jeans aus und spielt drauf die Luftgitarre. Er trägt Chucks und ergänzt die Originalhymne auf die "Blue Jeans" aus dem Text mit einem Bestehen auf der "501" als der einzig wahren Hose. Eine Mode aus den vergangenen Jahrzehnten ist in die Inszenierung integriert, und nicht nur die Bühne, auch die Figur Wibeau funktioniert umso besser als Projektionsfläche für die eigenen Sehnsüchte.
Unerwartete Bilder
Der Hoffmannkeller ist die kleinste und intimste Bühne des Augsburger Stadttheaters. Die Schauspieler sind hier besonders nah am Zuschauer. Alle sitzen um die Spielfläche und werden teilweise ungewöhnlich direkt miteinbezogen. Ulrich Rechenbach rennt kurz raus, kommt mit einer Kloschüssel zurück, setzt sich neben einen Zuschauer in der ersten Reihe mit herunter gelassener Hose. Als er dann noch einen Luftballon aufbläst, um Klogeräusche zu imitieren, ist das am Rand der Albernheit, allerdings immer auf der sicheren Seite: Die Spieler machen Spaß, weil sie einen Stoff gefunden haben, den sie gern vor Publikum ausbreiten. Das gilt auch für die andern beiden Mitspieler: Sarah Bonitz, deren Charlie, so schön undurchsichtig ist, für den Zuschauer und für Edgar Wibeau. Man weiß nicht, was sie für ihn opfern würde, wenn sie plötzlich im Mantel im Raum steht und ihn schon länger fixiert. Und später sich mit Wasser übergießt, um einen Regen zu simulieren, der sie beide so nass macht, dass sie alles vergessen, sich sogar küssen. Philipp von Mirbach ist der Vater von Edgar, der sich posthum auf die Spurensuche nach seinem Sohn begibt sowie der Verlobte Charlies, Dieter. Auch er hat seine großen Momente: Wenn er auf dem Boden Bücher von Marx und Engels pedantisch der Größe nach sortiert und sich jede Einmischung verbittet. Oder wenn er versucht ein verstehendes Gesicht aufzusetzen, während Edgar aus dem Original-"Werther" zitiert.
"Die neuen Leiden des jungen W." waren einmal ein Versuch, einem zu einem toten Stück Papier mutierten literarischen Werk eine neue Aktualität zu verleihen. Mittlerweile gehört das Stück selbst zu den zu reanimierenden Werken der Theaterliteratur. Ramin Anaraki löst diese Aufgabe mit überzeugender Leichtigkeit. Er füllt seine Inszenierung mit schönen Ideen, ohne sie zu überfrachten. Er liefert Bilder an Stellen, an denen sie keiner erwartet hätte. Mit einem Diaprojektor wirft Edgar Wibeau seine Gemälde an die Wand. Damit sie alle sehen können, muss er sich mit dem laufenden Apparat um den Kreis drehen und plötzlich werden alle Wände und auch alle Zuschauer zu Projektionsflächen. Im Wesentlichen treiben sie doch noch dieselben Gefühle an wie die Menschen bei Goethe oder die vor vierzig Jahren.